Pressefoto
Für ihr fulminantes Spielfilmdebüt „Systemsprenger“ wurde Filmemacherin Nora Fingscheidt mit diversen internationalen Preisen bedacht. Der Erfolg ermöglichte der gebürtigen Braunschweigerin 2021 das Projekt „The Unforgivable“ mit Sandra Bullock und Viola Davis zu realisieren. Nun adaptierte die 41-jährige die Autobiografie „The Outrun“ von Amy Liptrot, die ihren Weg aus dem Alkoholismus beschreibt. Das Drama startet am 5. Dezember, die Hauptrolle übernahm der irisch-US-amerikanische Superstar Saoirse Ronan („Lady Bird“).
Frau Fingscheidt, hegen Sie eine Vorliebe für zerrissene weibliche Charaktere?
(lacht) Dass es Frauen waren, ist ehrlich gesagt Zufall, weil die beiden letzten Filme über die Schauspielerinnen zu mir kamen. Vielleicht war es auch kein Zufall, weil man eine geeignete Regisseurin suchte. Bei Benni (Anm.: „Systemsprenger“) war es mir wichtig, dass die Protagonistin ein Mädchen ist. Ich wollte nicht nur das Klischee der wild gewordenen, gewalttätigen kleinen Jungs bedienen, es sollte explizit ein Mädchen sein. Bei den beiden Charakteren danach hat es sich einfach so ergeben. Dass mich aber eher zerrissene Figuren interessieren, die mit ihren eigenen Dämonen zu kämpfen haben, ist sicherlich so. Ich finde es einfach spannender, diesen inneren Konflikt zu erzählen, als den holden Helden, der gegen den schrecklichen Bösewicht kämpft.
Sie haben das Drehbuch gemeinsam mit der Romanautorin Amy Liptrot geschrieben. Welche Aspekte waren ihr besonders wichtig?
Amy wollte vor allen Dingen darauf achten, dass der Film trotz aller nötigen Fiktionalisierung und Vereinfachung im Kern die Wahrheit der Geschichte beibehält. Es war auch mein Wunsch, das Drehbuch gemeinsam mit der Buchautorin zu schreiben. Die Autobiografie einer Person zu verfilmen, die nicht bereits prominent ist, birgt eine riesige Verantwortung ihr und ihrer Familie gegenüber in sich. Amy hingegen muss mit diesem Film leben, solange sie auf dieser Erde weilt. In Orkney – einer sehr kleinen Community – wird wohl ein Großteil der Menschen diesen Film sehen. Ich wollte, dass sie und auch ihre Familie danach noch stolz und erhobenen Hauptes durch die Straßen Kirkwalls laufen können. Deshalb war es mir wichtig, dass wir so eng wie menschenmöglich zusammenarbeiten. Natürlich muss ich trotzdem schauen, dass ich genug Zeit allein mit dem Buch und dem Prozess habe. Als Regie brauche ich einen eigenen Zugang zu dem Thema, um künstlerische Entscheidungen treffen zu können. Ich wollte keinen Dokumentarfilm machen. Es war diese Balance zwischen Fiktion und Realität, die den Film bis zum Ende begleitet hat.
Saoirse Ronan war schon besetzt, bevor Sie zum Projekt stießen. Ein Glücksfall?
Ja, total. Ich weiß nicht, ob ich mich ohne diese Besetzung getraut hätte, das Buch anzufassen. Wenn man diese Autobiografie liest, sieht man, dass sie gewiss nicht einfach verfilmbar ist. Es handelt sich um eine Essaysammlung aus Tagebucheinträgen, die manchmal innerhalb eines Satzes vier Zeitebenen umfassen. Es sind innere Gedankenprozesse, die dort stattfinden. Am Anfang dachte ich immer: „Um Gottes Willen! Wie soll das denn ein Film mit einer Geschichte von A bis Z werden?“.
Ist Alkoholismus im Filmgeschäft verbreitet?
Es gibt ihn, auf jeden Fall. Ob die Filmbranche stärker von Alkoholismus betroffen ist als andere Berufsgruppen? Da fehlen mir die Zahlen. Alkoholismus ist eine Krankheit, die sich in der Mitte der Gesellschaft abspielt. Niemand kann dem Thema Alkohol aus dem Weg gehen. Die einen können gut damit umgehen und die anderen eben nicht. Ich glaube, jeder kennt jemanden im engeren oder weiteren Umfeld, der den Umgang mit Alkohol nicht händeln kann. Gerade für junge Menschen – und ich würde sogar behaupten, gerade für junge Frauen – ist es nicht selbstverständlich, dass es als Problem wahrgenommen wird, wenn es ernst wird. Es heißt immer nur: „Ach, du trinkst eben gerne und feierst halt ein bisschen zu viel. Du bist doch keine Alkoholikerin!“ Das ist eine Krankheit, die man ü-50 Arbeitslosen zuschreibt, aber nicht einer Frau Anfang 20. Ich höre oft von Betroffenen, dass es brutal schwierig ist, ein soziales Umfeld aufrechtzuerhalten, ohne zu trinken. Auf jeder Party oder bei Festigkeiten heißt es immer: „Ach komm, jetzt stell’ dich nicht so an. So schlimm ist das nicht.“ Deshalb fand ich es spannend, Alkoholismus – und vor allem seinen Heilungsprozess – aus der Perspektive einer jungen Frau erzählt zu sehen.
Sind Buch und Film auch ein Plädoyer für ein entschleunigtes Leben?
Das würde ich generell nicht so sagen. Jeder muss schauen, was ihm guttut. In Amys Fall war es eben diese Zurückgezogenheit, die ihren Heilungsprozess ermöglicht hat. Das geschah aber schon zu einem Zeitpunkt, in dem sie alle Brücken abgebrochen hatte. Sie konnte nicht zurück nach London und bei ihren Eltern bleiben, weil sie gemerkt hat, dass das alles zu eng ist. Ihr blieb nur die Flucht nach Norden. Absurderweise ist es genau dieser Ort der Einsamkeit, wo Amy/Rona sitzt und mit Astronauten chattet – auch so ein schräges Bild für jemanden, der Einsamkeit, aber auch Verbindung braucht – wo sie es geschafft hat, sich ihrer Vergangenheit zu stellen. Ob das für jeden so ist? Ich würde nicht jedem empfehlen, zwei Winter alleine auf Papa Westray zu verbringen. Manche Leute könnten dort auch depressiv werden und gar nicht heil wieder herauskommen. „The Outrun“ ist kein allgemeines Plädoyer für Einsamkeit, sondern eine spezielle Geschichte. A. Wesche
Eine wahre Geschichte. Rona ist auf den schottischen Orkney-Inseln aufgewachsen, hat der Heimat aber den Rücken gekehrt und ist in die Metropole London gezogen, weil hier deutlich mehr los ist. Dort lebt sie mit ihrem Freund Daynin zusammen, der mit großer Sorge beobachtet, wie sich Rona immer mehr dem Alkohol zuwendet. Nach einem tiefen Fall kehrt sie auf die Inseln zurück und ordnet ihr Leben neu. Super!
Drama/Biografie, D/GB 2024, FSK 12, Kinostart: 05. Dezember